Der Kontext ist ein Inhalt

– besonders im Umfeld von Behinderung?

Auf jeden Fall wird es hier deutlicher: durch manche Kontextbedingungen werden Menschen mit einer Behinderung zusätzlich behindert. Manche Aktivisten gehen soweit zu sagen: wir sind nicht behindert, wir werden behindert!

Ich war in der Premiere eines Films mit einem Hauptdarsteller, der im Rollstuhl sitzt. Das Kino ist nicht barrierefrei, gerne hätte ich gesehen, wie der Elektrorollstuhl des Schauspielers die Stufen in den Kinosaal kam, denn vor dem Kinosaal sind mehrere Stufen – und Elektorollis sind schwer…

Auch X., der Vater von Y. der im Rollstuhl sitzt, meinte, er habe sich sehr überlegt, ob er seinen Sohn, der inzwischen erwachsen und damit recht schwer ist, die Stufen hoch in dieses Kino bringen wolle/könne, denn die Thematik des Films wäre für Y. interessant gewesen. Aus der Perspektive des Rückens von X. hatte Y. glücklicherweise etwas Anderes vor. Während des Films begann ich darüber nachzudenken, wie ich meine Gedanken zur Barrierefreiheit so formulieren könnte, dass daraus kein Vorwurf erwächst, sondern ein Erkenntnisprozess möglich wird: wie kommt so eine Entscheidung zustande – und was bedeutet das?

Ich formulierte meine Frage in etwa so: „Was bedeutet es, wenn sich Filmemacherin/Produzentin/Veranstalter entscheiden einen Film, in dem ein Assistenzverhältnis im Zentrum steht in einem Kino zu zeigen, das die meisten Menschen, die auf Assistenz angewiesen sind, nicht oder nur schwer aufsuchen können?

Anstatt das Team, an das ich die Frage gerichtet hatte, zu Wort kommen zu lassen begann der Hausherr sich zu rechtfertigen und darauf hinzuweisen, dass dieser Film ja in anderen Kinos angesehen werden könne und der Hauptdarsteller und eine andere Rollstuhlfahrerin ja auch ins Kino gekommen wären, die Mitarbeiter des Kinos wären da sehr hilfsbereit.

Erst jetzt „durfte“ das Team antworten, unter Anderem, dass man sich über diese Frage im Vorfelde viele Gedanken gemacht habe. Inzwischen weiss ich, dass das barrierefreie Metropolis schon belegt war und der Hauptdarsteller nur zu diesem Termin Zeit hatte.

Nachdem auf meine Frage reagiert worden war kam die Anmerkung, es wäre doch schön, jetzt über den Inhalt des Films zu sprechen – ich behaupte: der Kontext ist ein Inhalt. Der Film hatte aber auch andere interessante Aspekte zu bieten.

Ich glaube die Welt erstarrt in „kritischen Situationen“ häufig in einem wechselwirkenden Zustand von „Empörung und Beschwichtigung“ oder „Vorwurf und Rechtfertigung“. Die Entwicklungsrichtung kann aus meiner Sicht nur zu einem unaufgeregten „Blick der Liebe“ gehen, der sich konstruktiven Lösungen zuwendet. Ohne gegenseitige Wertschätzung lässt sich kein Problem positiv lösen.

Was hat es zur Folge, dass aus einer Wechselwirkung von Sachzwängen und Entscheidungen dieses Kino für die Premiere ausgewählt wurde?

Es hat zur Folge, dass sich im Publikum mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Menschen befinden werden, die in einer ähnlichen Situation sind wie der filmische Protagonist und auch sein Schauspieler.

Ich hätte mir gewünscht, dass mit uns ein Mensch mit Muskeldystrophie (Muskelschwund) die Premiere gesehen hätte, der Krankheit, die der eine Hauptprotagonist hatte – einer fortschreitenden Muskelkrankheit, die zum Tode führt, meist wenn die Herz- oder Atemmuskulatur betroffen sind.